Gestörte Debatten

Wie Regierungen mit Urheberrechtsgesetzen und Twitter-Bots gegen Kritik in den sozialen Medien vorgehen
Von Alexandra Ellerbeck

Am 10. Juli 2016 teilte der ecuadorianische Journalist Bernardo Abad über Twitter mit, Ecuadors ehemaliger Vizepräsident Lenin Moreno habe im Vorjahr keine Einkommensteuer gezahlt. Eine Woche später erhielt Abad von Twitter die Mitteilung, sein Konto sei wegen Verstoßes gegen die Nutzungsbedingungen gesperrt worden. Binnen 24 Stunden wurden mindestens fünf weitere Nutzer, die über Morenos Steuern getwittert hatten, vorübergehend gesperrt. Nach Angaben von Fundamedios, einer Nichtregierungsorganisation zum Schutz der Meinungsfreiheit, wurden bis zum Ende darauffolgenden Woche insgesamt neun Twitter-Accounts deaktiviert. Twitter lehnte eine Stellungnahme zu den Sperrungen ab.

Inhaltsverzeichnis

Attacks on the Press book cover
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Organisationen zur Verteidigung der Meinungsfreiheit gehen davon aus, dass in Ecuador Inhalte entfernt und Nutzerkonten gesperrt wurden, weil die Regierung gezielt kritische Informationen zensiert. Die Organisationen betrachten das als Teil eines weitreichenderen globalen Musters: Das Zensieren oder Übertönen kritischer Stimmen sei nicht mehr die alleinige Domäne autoritärer Regierungen wie jener in China und Russland, sondern werde auch von Ecuador und Mexiko betrieben.

Moreno ist seit einem gewaltsamen Autodiebstahl, bei dem ihn eine Kugel in den Rücken traf, querschnittsgelähmt. Er erntete viel Lob wegen seines Engagements für die Rechte von Menschen mit Behinderungen in Ecuador und wurde später in Genf UN-Sondergesandter über Behinderung und Barrierefreiheit. Wenn die Amtszeit von Präsident Rafael Correa im kommenden Jahr endet, wird Moreno höchstwahrscheinlich als Präsidentschaftskandidat der Regierungspartei antreten.

Bildschirmfoto des Twitter-Kanals des ecuadorianischen Journalisten Bernardo Abad. Übersetzt lautet sein Tweet: „Mein Account wurde blockiert, weil ich öffentliche Dokumente der Steuerbehörde (SRI) gezeigt habe. Lenin Moreno hat 2015 keine Steuern gezahlt.“ (CPJ)
Bildschirmfoto des Twitter-Kanals des ecuadorianischen Journalisten Bernardo Abad. Übersetzt lautet sein Tweet: „Mein Account wurde blockiert, weil ich öffentliche Dokumente der Steuerbehörde (SRI) gezeigt habe. Lenin Moreno hat 2015 keine Steuern gezahlt.“ (CPJ)

Die Diskussionen auf Twitter bezogen sich größtenteils auf einen kürzlich erschienen Bericht des investigativen Nachrichtenportals Fundación Mil Hojas („1000-Seiten-Stiftung”). Ihm zufolge hatte Moreno während seiner zweijährigen Tätigkeit als UN-Sondergesandter in Genf mehr als eine Million US-Dollar verdient. Moreno erklärte in einer Chat-Nachricht bei Facebook, das Wiener Übereinkommen über diplomatische Beziehungen befreie ihn von der Steuerpflicht, da er als Sondergesandter gearbeitet habe.

Die insgesamt neun Twitter-Sperren, die nach den Berichten über Morenos Steuern verhängt wurden, überschneiden sich zeitlich mit acht weiteren Eingriffen in Benutzerkonten (Deaktivierung oder Löschung von Beiträgen), die im Juli 2016 bei Aktivisten erfolgten, welche die Regierung in anderer Weise kritisiert hatten. Dies geht aus Informationen hervor, die von Fundamedios zur Verfügung gestellt wurden. Moreno beteuerte, in keinem der Fälle eine Löschung beantragt zu haben, und Twitter vermied eine Stellungnahme. Nach Beschwerden von Fundamedios, CPJ und anderen Organisationen stellte Twitter die Benutzerkonten schließlich wieder her.

Ecuadorianische Organisationen zum Schutz der Meinungsfreiheit beklagen seit langem, dass Oppositionelle und kritische Journalisten eine Deaktivierung ihrer Twitter-Konten befürchten müssen, denen zweifelhafte Beschwerden wegen Urheberrechtsverletzungen oder Verstößen gegen die Nutzungsbedingungen zugrunde liegen. Fundamedios dokumentierte nach eigenen Angaben von Mitte April bis Mitte Juli 2016 mindestens 806 Beschwerden gegen 292 Nutzerkonten. Diese wurden größtenteils von einer einzigen spanischen Firma namens Ares Rights eingereicht, die regelmäßig Eingaben im Namen ecuadorianischer Regierungsbehörden und -politiker macht.

CPJ konnte diese Zahlen nicht unabhängig verifizieren, Berichte über Zensur in den sozialen Medien sind in Ecuador jedoch an der Tagesordnung. Im Jahr 2013 reichte Ares Rights eine Urheberrechtsbeschwerde gegen Buzzfeed ein, die im Auftrag des ecuadorianischen Geheimdiensts (SENAIN) erhoben wurde. Zuvor hatte das Nachrichtenportal durchgesickerte Dokumente veröffentlicht, in denen die Behörde beschuldigt wird, Überwachungsausrüstung beschafft zu haben. Ares Rights stellte auch im Auftrag des Ecuadorianischen Sekretariats für Kommunikation (SECOM) eine Reihe von Löschungsanträgen, die sich gegen oppositionelle Medienkanäle und Organisationen zum Schutz der Meinungsfreiheit richteten. SECOM stritt jede Vertragsbeziehung mit der Firma ab und ließ weitere Bitten um Stellungnahme unbeantwortet.

Während des Arabischen Frühlings vor sechs Jahren galten die sozialen Medien als organisch gewachsener Ort, an dem die Bevölkerung ihre Ansichten teilt. Man glaubte, die sozialen Medien seien in der Lage, Regierungen zu schwächen und Revolutionen auszulösen. Auch wenn das Narrativ der Social-Media-Revolutionen in Folgejahren immer komplexer wurde, besagte es im Grunde und vielerorts bis heute, dass die sozialen Medien eine Momentaufnahme der öffentlichen Debatte vermitteln. Diese Annahme führt zu Kontroversen, sobald die Betreiber der sozialen Netzwerke selbst auf den Plan treten und vermeintlich redaktionellen Einfluss ausüben.

Es sind jedoch nicht nur die Plattformen, die Einfluss auf die Inhalte nehmen: Regierungen, denen die Netzwerke von „Bürgerjournalisten” eigentlich auf die Finger schauen sollten, werden selbst immer geschickter darin, die sozialen Medien für Überwachung, Zensur und Propaganda zu nutzen. Regierungen und politische Schlüsselfiguren beeinflussen Debatten – absichtlich oder unabsichtlich – immer stärker, die auf Plattformen wie Twitter oder Facebook stattfinden. Dies kann durch Armeen von Propagandakünstlern geschehen wie in Russland, China oder Mexiko, durch die Überwachung und Löschung von Konten im Rahmen von Antiterrormaßnahmen wie in den USA, oder durch die Deaktivierung kritischer Twitter-Konten wie in Ecuador.

Twitter veröffentlicht jährliche Transparenzberichte über die Anzahl der Löschungsanträge, die das Unternehmen von Regierungsbehörden und Gerichten aus der ganzen Welt erhält. Von Januar bis Juni 2016 verzeichnen diese Berichte 1.601 Anfragen aus Russland, 2.493 aus der Türkei und 100 aus den USA. Twitter erklärt, man sei dem überwiegenden Teil der Gesuche nicht nachgekommen. Von Ecuador wurde nur eine einzige Anfrage gestellt, der Twitter nach eigenen Angaben nicht entsprach. Im Gegensatz dazu sind Beschwerden wegen mutmaßlich politisch motivierter Urheberrechtsverletzungen oder Beschwerden wegen Verletzungen der Privatsphäre weitaus häufiger und lassen sich schwieriger erkennen bzw. mit einer Regierung in Verbindung bringen.

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Am 1. Dezember 2014 schrieb die Journalistin Erin Gallagher in einem Blog über eine Großdemonstration in Mexiko Stadt. Sie verfolgte den Fall einer Gruppe mexikanischer Studenten, die seit dem 26. September 2014 vermisst wurde. Die 43 Studenten einer Ausbildungsstätte für Lehrkräfte in Ayotzinapa waren verschwunden, als sie sich auf dem Weg zu einer Demonstration in der Hauptstadt befanden. Die Polizei ermittelte unzureichend, zugleich gab es Hinweise darauf, dass das Militär in den Fall verstrickt war. Dies verstärkte die Unzufriedenheit vieler Mexikaner über Gewalt und Korruption und führte schließlich zu einer Reihe von Großdemonstrationen. Von ihrem Zuhause in Pennsylvania aus berichtete Gallagher für das Internetportal Revolution News über die Proteste. Sie sprach mit Aktivisten und verfolgte das Geschehen in den sozialen Medien. Gallagher gab an, sie habe das Hashtag der Proteste #RompeElMiedo („Durchbreche die Angst”) verfolgt, als etwas Seltsames geschehen sei:

„Ich beobachtete die Proteste den ganzen Tag bis in den Abend hinein live, und dann wurde das Hashtag, das ich verfolgte, plötzlich mit Spam überflutet”, so Gallagher. „Wenn einem so etwas im Internet in Echtzeit begegnet, weiß man, dass gerade etwas Seltsames geschieht. Es ist offensichtlich, dass das keine organisch entstandenen Informationen sind.” Die Beiträge zu dem Hashtag waren derart mit Nonsens, Zufallsbegriffen oder Symbolen gefüllt, dass das Hashtag unbenutzbar wurde.

Gallagher gab an, ihr sei klar geworden, dass sie es mit Bots zu tun hatte, automatisierten Computerprogrammen, die Diskussionen in den sozialen Medien beeinflussen sollen. Wissenschaftlern zufolge, die zu solchen Bot-Programmen forschen, deutet vieles darauf hin, dass die sozialen Medien in Mexiko von Trollen und Bots manipuliert werden. Diese sollen die Trending Topics verändern, Journalisten einschüchtern, Propaganda verbreiten oder Diskussionen, in denen bestimmte politische Figuren kritisiert werden, in eine andere Richtung lenken.

„Ich würde sagen, dass Mexiko die Messlatte dafür ist, wie man Bots so schädlich und manipulativ wie möglich einsetzen kann”, so Sam Wooley, Projektmanager bei Politicalbots.org. „Bots werden als Barrikade benutzt. Man twittert einen Haufen Informationen an Aktivisten, um Diskussionen zu stören oder eine abschreckende Wirkung zu entfalten.”

Experten erklärten gegenüber CPJ, die Bots würden mittlerweile von allen politischen Lagern in Mexiko eingesetzt. Weil sie überwiegend positive Nachrichten über Mexikos Präsident Enrique Peña Nieto oder seine Partei verschicken, werden sie auch scherzhaft als Peñabots bezeichnet. Gallagher erklärte, die Annahme, dass Bots in Mexikos politischen Debatten aktiv sind, sei derart verbreitet, dass mitunter auch legitime Sympathiebekundungen für die Regierung als Spam missverstanden würden.

Bots zu erkennen ist nicht immer leicht. Obwohl es gewisse Indikatoren wie die Nachrichtenfrequenz, die Kohärenz der Mitteilungen und die Beziehungen der Bots untereinander gibt, kann es schwierig sein, automatische Benutzerkonten eindeutig zu identifizieren, besonders für den unbedarften Beobachter. Zudem werden die Bot-Programme immer ausgefeilter. „Für jedes Detektionssystem, das programmiert wird, kann ich einen Bot schreiben, der es umgeht”, so Tim Hwang, Wissenschaftler des New Yorker Forschungsinstituts Data and Society. „Ich denke, es wird ein Wettrüsten geben. Die Manipulationskampagnen werden immer ausgeklügelter werden.”

In Mexiko begegnet man laut Woolley zunehmend Bots in Kombination mit menschlichen Kommentatoren. Ein Bot beginnt beispielsweise eine Diskussion, die dann von einem Menschen übernommen wird, sobald Dritte sich auf einen Schlagabtausch einlassen. Sowohl Hwang als auch Woolley weisen jedoch darauf hin, dass politisch orientierte Bots nicht immer schlecht sind. Sie können auch eingesetzt werden, um politische Aktivisten zu vernetzen, Informationen zu beschaffen oder Vorfälle zu verfolgen. So gibt es beispielsweise einen Bot, der jeden Schusswaffengebrauch durch einen Polizeibeamten in den USA aufzeichnet. Und dennoch: Bots werden missbraucht.

Noch schwieriger als politische Bots zu erkennen ist es, herauszufinden, wer sie finanziert und woher sie kommen. Im März berichtete Bloomberg, der inhaftierte kolumbianische Hacker Andrés Sepúlveda habe erklärt, Peña Nietos Wahlkampfteam habe ihn vor den Präsidentschaftswahlen 2012 engagiert. Eine seiner Aufgaben sei es gewesen, im Internet Meinungen zu manipulieren, indem er Fake-Profile und eine Armee von 30.000 Twitter-Bots verwaltet habe. Wenngleich sich Sepúlvedas Schilderung laut Bloomberg zeitlich mit den Cyberangriffen und Propagandamaßnahmen deckt, zu denen es während des Wahlkampfs kam, konnten nicht alle Details seiner Aussagen unabhängig bestätigt werden. Das Büro des Präsidenten lehnte eine Stellungnahme ab.

Aber nicht nur in Ecuador und Mexiko werden die sozialen Medien politisch manipuliert. Eine 65 Länder umfassende Untersuchung in dem 2015 von Freedom House veröffentlichten Bericht „Freedom on the Net” stellte fest, dass in 24 Staaten regierungsfreundliche Kommentatoren eingesetzt werden, um Debatten zu manipulieren. In China veröffentlicht eine als Fifty Cent Party bekannte Gruppe von Regierungsmitarbeitern Beiträge mit regierungsfreundlicher Propaganda und koordiniert Verleumdungskampagnen gegen Kritiker. In Russland werden Journalisten von Heeren regierungsnaher Kommentatoren bösartig angegriffen. Sogar die USA haben für ihre Antiterrormaßnahmen die Manipulation sozialer Medien erforscht.

Die Manipulation beschränkt sich auch nicht auf Twitter allein. Laut Woolley und Hwang operieren auch auf Facebook und anderen Plattformen Bots und bezahlte Trolle. Die offene Struktur von Twitter erleichtert schlichtweg die Erkennung der Bots.

Für Journalisten bedeutet die Manipulation der sozialen Medien, dass einige Debatten verloren gehen, während andere unter falschem Vorwand angezettelt werden. Dies sind Gebiete, die sich nur schwer kartieren lassen. Während ecuadorianische Journalisten zensierte Inhalte beharrlich immer wieder neu veröffentlichen und ihre Berufsgenossen in Mexiko auch im Angesicht von Provokationen und Drohungen unermüdlich weiterkämpfen, erweitern und überarbeiten Regierungen und Funktionäre die Mittel immer weiter, mit denen sie öffentliche Debatten und politischer Opposition unterdrücken.

Alexandra Ellerbeck ist Research Associate in der Abteilung Nord-, Mittel- und Südamerika bei CPJ. Zuvor arbeitete sie bei Freedom House und war Fulbright Teaching Fellow an der staatlichen Universität Pará in Brasilien.